Katalog Yuri Kuper 1974
GalerieLietzow

Text Yuri Kuper

Meine Zukunft, meine Vergangenheit

Es ist schwer, über sich selbst zu schreiben, besonders dann, wenn es nicht um konzeptionelle Kunst, nicht um formale, konstruktive Flächen- und Raumlösungen geht, sondern um einen persönlichen, intimen Ausdruck der eigenen physiologischen Struktur.

Für mich ist jeder schöpferische Prozess vor allem an die eigene Beschaffenheit gebunden, und erst dann stellt er irgendeine Konzeption dar. Größe und Bedeutung eines Künstlers hängen für mich nicht von der Neuheit oder Ungewöhnlichkeit der Konzeption ab, sondern davon, wie organisch er sie zum Ausdruck bringt. Das ist eine Frage seines künstlerischen Könnens. Ich glaube ihm oder ich glaube ihm nicht.

In unserer seltsamen Zeit muß die nicht hastende, bedeutsame, vom Zeitgefühl freie und auf Zeitlosigkeit ausgerichtete Kunst, von der Gesellschaft in die öffentliche Arena geworfen, mit einer Geschwindigkeit rennen, wie sie die Geschichte noch nicht kannte. vorgestern noch Abstraktion, gestern schon amerikanische Popart, heute amerikanischer Superrealismus – am Rande laufen das noch die Kinetiker und Objekt-, Landschafts- und Happening-Künstler mit – aber auch sie sind bereits das "Gestern" der aktuellen Kunst.

Alle rennen. Europa, nicht mehr jung, schwer beladen, hüpft mit und versucht, nicht hinter dem leichtfüßig laufenden Amerika zurückzubleiben. Die Franzosen, die Säcke mit ihrer großen Vergangenheit weggeworfen, trippeln nun mit leichtem Gepäck hinter den Amerikanern her, die dahineilen, ohne sich umzuschauen. Alle, die ganze Welt, selbst die Japaner, haben ihre vortrefflichen Vorfahren vergessen. Die Geschwindigkeit wird unerträglich, aber alle rennen weiter und in aller Augen steht die törichte Frage "Was wird morgen?" – und das sogar ohne sich eine Zigarettenpause über das heute Gefundene zu gönnen.

Und es bekümmert niemanden, dass Kunst in erster Linie Persönlichkeit und nicht Gruppe, dass dies nicht populäre Folklore, sondern tausendjährige Tradition ist.
Gewiss, es ist angenehme, diesen Plunder zum Teufel zu schicken und den Fußboden mit quadratischen Linoleumplatten auszulegen; da ist schon was dran, aber warum denn unbedingt alle auf einmal?

Mir erscheint dieser wahrhaft verrückte Marathonlauf lächerlich und traurig. Gerade, jetzt möchte man, wie noch nie, innehalten, sich irgendwo abseits niedersetzen und ohne Hast in sich selbst hineinschauen. Die Kunst ist für mein Erinnerungsvermögen, meine Wahrnehmung, und zwar nicht von der Blattfläche ausgehend, sondern aus mir selbst heraus. Wenn alle vom Kosmos, von der Zukunft, von Plexiglas und Plastik-Ästhetik, von kommenden Materialien reden, so bestehen meine Zukunftsvorstellungen in meinen zerbrochenen Stühlen und den Drapier-Fetzen – den ewigen Begleitern der Malkunst. Mein Raum hat weder Vergangenheit, noch Zukunft – er ist wie die stehengebliebene Zeit.

Ich glaube nicht, dass die Kunst, abgesehen von der Folklore, Verkünder der Zeit sein müsse. Die Folklore schon. Die kommende Generation wird auf den Monat genau wissen, welche Zahnpasta-Marke bei ihren Vorfahren zum gegebenen Zeitpunkt populär war, welche Fleischsorte Oldenburgs Zeitgenossen zu sich nahmen. Die Fernseh-Ästhetik ist allen über den Kopf gewachsen. Ich habe ganz und gar nichts gegen sie und sie hat ihre Existenzberechtigung, wie übrigens alles, was an diesem Marathonlauf teilnimmt; ich bin nur gegen hastig ausgedachte Messskalen und Sekundenmesser, museale Sekundenmesser.

In der Geschichte der Kunst ist schon längst alles dagewesen: das vorgestrige Happening, das als neu ausgegeben wird, und die Kinetiker und die Popart, die man aus dem Dada zusammenflickte. Aber letzten Endes ist auch hier nicht die Richtung, sondern die Persönlichkeit entscheidend. Ich habe nicht das Bedürfnis, eine neue Welt und eine neue Ästhetik zu schaffen, sondern alle Vorstellungen von der alten und der neuen zu zerstören. Mein Bedürfnis besteht nicht darin, die Umdrehungszahl des Zeigers einer ultramodernen Uhr zu erhöhen, sondern ihn auf der alten anzuhalten.
Der Raum ist für mich ein erstarrter Schleier des Erinnerungsvermögens, der Vergangenheit und Zukunft verbindet. Ich weiß nicht, vielleicht trägt meine Kunst ein bisschen zu viel die Züge einer dekadenten Romantik, doch ich sehe mich außerstande, dem zu widerstehen. Ich habe nicht in Amerika gelebt, und meine Kultur ist die europäische Kultur. Meine Traditionen sind europäische Traditionen und die haben sich noch nie durch aktiven Optimismus und den Wunsch ausgezeichnet, in die Zukunft blicken zu wollen.

Alles, was mich irgendwie bewegt, ist allein Betrachtung der Leere; alles was ich sagen will, ist: "Sie wie leer". Auf meinen Bildern geht nichts vor; es scheint mir nur so, als ob sich plötzlich in dieser totalen Statik etwas zu bewegen beginnt – und dann herrscht wieder Stille. Das ist eine geschlossene Welt im Strome von Bewusstsein, Stille, Erinnerungsvermögen und Weltschutthalde. Es ist eine Welt der Eklektik, wo auf dem Weltall-Badestrand sowohl das Mittelalter als auch die Renaissance, Popart und Surrealismus neben den Stühlen aus meiner Moskauer Wohnung herumliegen. Und das eben ist meine Zukunft und meine Vergangenheit.

Übersetzung aus dem Russischen: Peter Aberle
Freie Bearbeitung der Übersetzung: Godehard Lietzow