Martin Dittberner 1979
Galerie Lietzow und Kulturamt der Stadt Kassel

Der Lärm hat anfangs immer die Macht über die Stille, doch, so laut er auch sein mag, wohnt ihm doch die Eigenschaft inne, vorüberzugehen. Die Stille aber bleibt.

Über Martin Dittberner

Es widerfährt mir höchst selten, dass das Werk eines Künstlers meinen Geist unversehens in jenen beinahe verloren geglaubten Zustand des Sinnens voller unwiederbringlicher Fülle und Dichte der aus dem Innern des Vorstellungsvermögens aufsteigenden Bilder zurückversetzen imstande ist, der mir – wie wohl uns allen – als Kinder zu eigen war.

Das Werk Martin Dittberners vermag das. Damals betrachtete ich die Bilder in alten Büchern so, wie die Malerei es eigentlich fordert, und wie ein Maler sich die Wirkung der von ihm geschaffenen Bilder ursprünglich wünschen sollte, indem ich den Rand des Bildes, seinen Rahmen, einer natürlichen Magie zufolge als das begriff, was er auch wirklich bedeutet, nämlich als ein Fenster, durch das der Geist, dem Blick des Auges folgend, in das Bild hineinsteigt, um in seiner Tiefe umherzuwandern. Infolge der Freiheit, den der Spielraum des Bildinnern meiner Phantasie damals gewährte, war es mir, sobald mein Auge das Innere des Bildes erstiegen hatte, möglich, zwanglos und unbehindert umherzuschweifen und, eben wie Alice hinter den Spiegeln, das, was mir zuerst ferne im Hintergrund erschien, aus der Nähe zu betrachten, dort auch die vorher verborgenen Einwohner zu treffen, mich mit ihnen zu unterhalten, und um die Ecken im Innern des Bildes herumzugehen, die von aussen nicht sichtbar sind.

Mit der Zeit des im Bilde-Seins beschlich mich dann aber eine kaum wägbare Furcht, ich könnte nicht wieder herausfinden. Denn wenn sich der Besucher eines Bildes nach einigem Wandern in den Gefilden hinter dem Rahmen umdreht, um dorthin zu blicken, woher er gekommen ist, dann verliert er leicht die Orientierung, weil das Loch, durch das er den Einstieg fand, jetzt aus der umgekehrten Ferne ausmacht, nur noch ein kleiner, schwer wiederzufindenden Punkt in der inneren Landschaft ist. So war es damals vor vielen Jahren, und genauso ergeht es mir jetzt beim Anschauen von Martin Dittberners Bildern, denn gerade in deren äußerer Kleinheit verbergen sich die unabschätzbaren Ausmaße der Weite und Ferne ihrer inneren Dimension.
Einses der Aquarelle Dittberners aus jüngerer Zeit, es misst im ausschnitt nicht mehr als 12 x 12 cm, zeigt die Sicht auf die Häuser einer inmitten einer sich flachgewellt, lang hinziehenden Landschaft gelagerten kleinen Stadt. Den Eintritt des Auges setzt das Bild zunächst einigen hinhaltenden Widerstand entgegen, denn am unteren Rande erstreckt sich eine flache Barriere unterschiedlich großer spitzkegeliger Steine, deren Oberflächen das Licht in Bläulich-rötlichen Reflexen opak zum Schimmern bringen. Hinter der Steinbarriere wächst, einer zweiten Sperre gleich, eine Phalanx von Bäumen auf geraden Stämmen, ein quergelagerter Waldgürtel. erst wenn der wandernde Blick ihn durchdrungen hat, gelangt er in die dahinter gelegene helle Ebene, inmitten der die Häuser der kleinen Stadt mit weißen Stirnwänden und eng aneinander gedrückten steilen Ziegeldächern sichtbar werden. Der Kirchturm in seiner Wächterrolle überragt die Giebel der Bürgerhäuser ein wenig. Die Stadt im Hintergrund, oder – anders gesagt – in der inneren Ferne des Bildes erscheint in ein mildes Licht getaucht, das, gleich einer spindelförmigen Aura, schützend um die Häusersiedlung gehüllt ist. Darüber wölb sich ein in den feinsten Übergängen aller Farbschattierungen von Blau über Grün und Gelb zu Rot schimmernder perlgrauer Regenhimmel.

Die Betonung des Mittelgrundes durch eine Lichtspindel, die den mittleren Bildstreifen heller als seine Umgebung leuchten lässt, ist eine traditionelle Kompositionsform der Landschaftsmalerei, die bereits bei den Holländern des 17. Jahrhunderts zu beobachten ist, und die sich beispielsweise in den Landschaften Caspar David Friedrichs und William Turners wieder findet. Dittberner versteht es, in seinen kleinformatigen Bildern das Licht als Geheimnis erscheinen zu lassen, denn es fällt nicht von irgendeinem angenommenen Ort außerhalb des sichtbaren Bildausschnitts auf die gezeigten Gegenstände, sondern es produziert sich aus der Mitte des Bildes selbst und kommt ohne äußere Ursache so zum Erblühen, als stünden die Dinge, die es erhellt, erst unter seiner wirkenden Kraft. Hinter den ersten Häusern der kleine Stadt steigt sogleich das dunstige Firmament empor. Zuerst bleibt uns verborgen, wie der Weg hinter den Straßen , die zwischen den ersten Häusern hindurchführen, weitergeht. Kommen wir vielleicht gar nicht in eine Stadt sondern nur in ein Dorf, und sind die erstern Häuser etwas schon wieder die letzten? Oder ist die Stadt gar nicht so klein, sondern hinter den ersten Häusern kommen immer mehr und noch mehr Häuser, und unserer Phantasie öffnet sich dort ein ganzes Land? Die Neugier, die uns ins Innere treibt, wird vom Kitzel einer ungewissen Furcht, uns zu verlaufen, unterfangen. Wo kommen wir hin? Ins Jenseits – das Innere eines Bildes ist selbstverständlich immer ein Jenseitiges – unserer hiesigen Gegenwart, in ein ganz anderes Land? Wenn wir uns zu weit hineinwagen, können wir nicht mehr zurückkehren, jedenfalls nicht, ohne uns unmerklich verändert zu haben.

Godehard Lietzow hat im Begleittext zu der von seiner Galerie veranstalteten Dittberner-Ausstellung 1977 zum Schluss behauptet: "Wenn man so will, ist Dittberner ein Zauberer". Er ist es nicht nur, wenn man so will, sondern er ist es ohne allen Zweifel.

Das erste Mal, dass ich ein Bild von Dittberner sah, war auf einer Großen Berliner Kunstausstellung in den fünfziger Jahren in einer der Messehallen am Funkturm. Von all den zahlreichen Arbeiten, die damals dort gezeigt wurden, hinterließ mir das Dittberner-Bild neben einer Anzahl von Miniaturen Hannah Höchs, die unweit davon hingen, den stärksten Eindruck. Was aus ihm geworden ist, weiß ich nicht, aber es steht mir heute noch so deutlich vor Augen wie damals. Es ist eines der wenigen Gemälde des Künstlers, die einen großfigurig aufgefassten Menschen ins Bild setzen, einen krausbärtigen Kopf, leicht schräg gehalten, und eine Hand, die den Pinsel prüfend zwischen den Fingern fasst, ein imaginäres Selbstportrait.

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Es heißt "Der unbekannte Mittwochsmaler". Dieser ironisch formulierte Titel ist nichts anderes als der verschleiernde Deckname, hinter dem sich Dittberner, der Zauberer verbirgt, sein offenes Inkognito. Das andere Land, in das er uns entführt, zeigt sich uns in der Reihe der Gemälde, die seither entstanden sind, in zahlreichen Verwandlungen seiner Entscheidungsform. Diese Bilder sind im Vergleich mit Gemälden üblichen Maßes in Formaten gehalten, die von klein bis knapp unter Mittelgroß reichen. Sie sind in einer auf altmeisterlicher Kenntnis der Farbsubstanzen beruhenden sorgfältigen Technik bis in die feinsten Einzelheiten brillant gemalt. Eine abschließende Lasur überzieht das Bild ganz, ein Lüster, der uns die Sicht in das Innere des Bildes öffnet, in dem er uns ungehinderten Zugang versagt, das heißt, er macht uns das Bild transparent. Die Leute, die jene Gegenden im Bildinnern bewohnen, zeigen sich nie selbst. Sie sind außerordentlich scheu. Sie können nicht Menschen sein so wie wir, sondern es handelt sich um allerhand Gelichter aus den Untiefen unseres Bewusstseins. Das verraten uns die Formen der Häuser, die sie errichtet haben. Sonderbar geformte Gebäude, Trulli und Jurden, klappernde Feldmühlen, leerstehende Fabriken, Rundhütten, pilzig aufschießende Türme, Lagerhäuser mit steilen Giebeln, einzeln herumstehende Tore, Faktoreien, Gießereien, Klappereien, Windmüllereien, Wassermüllereien und Poltereien. Auf einem ebenen Terrain erheben sich direkt vor unserer Nase die Überreste eines stakigen Gezäuns. Mancher seiner rechteckigen und dreieckigen Felder sind noch mit transperent-rotem Stoff bespannt. Wer eintritt, stößt auf ein Vogelidol auf hohem, runden Sockel.
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Dahinter steht ein gedrungener zirkusartiger Rundbau mit stumpfkegelförmigem Dach, dessen blauweißzementige Mauern wuchtig wirken. Drei ungleichgroße Türen, eine breite gedrungene, eine hohe schlanke und eine lange dünne markieren dicht nebeneinander den einzigen Zugang zum Gebäude; sie sind verschlossen. Ein größeres Gebäude von ähnlichem Grundriss erhebt sich links hinter dem ersten. Seine Mauern sind von brauner Farbe. Ein großer gewölbter Torbogen, der ursprüngliche Eingang, ist jetzt zugemauert bis auf eine kleine in die Ecke gedrückte viereckige Tür. Links davor steht ein kleiner Wachtturm mit spitzkegeligem Dach. Von seinen Mauern blättert der Putz, allerhand kippeliges Gemäuer breitet sich zwischendurch aus, und auf dem freien Platz zwischen den Hauptgebäuden sind zwei schachtelhalmartige Masten errichtet, die – mit leeren Mastkörben – hoch in den dunkelgraugrünen Himmel ragen.

Bis dahin ist das Klima jener Gegenden verhältnismäßig trocken, und es entsteht sogar der Eindruck, sie befänden sich im Inneren eines Kontinents, unweit eines hinter dem Rückhorizont dem Blick noch entzogenen Zentralmassivs.

Seit 1972 hat sich Dittberner der Aquarelltechnik zugewandt, eine Anzahl wunderbarer kleiner Blätter ist entstanden, deren Vielfalt uns im winzigen Format des Bildausschnitts den Einstieg in die unendliche Weite, Ferne und Vielfalt der Innenwelten gestattet. Sind wir erst einmal eingestiegen, dann erschließt sich ein ganzer Kontinent. Sein Schöpfer nennt ihn Kordulaska. Die besondere Aquarelltechnik, die Dittberner entwickelt hat, wirkt auch auf seine Gemälde zurück. Die Landschaften erscheinen nicht mehr so trocken. Die Atmosphäre ist feuchter und wässriger geworden. Ein silbergraues Sfumato bricht und verteilt in feinsten Tröpfchen das über den Ländern schimmernde Eigenlicht. Kordulaska liegt nicht mehr, wie die vorherigen Gegenden Dittberners, in der weiten Inlandebene in der Nähe des großen Zentralmassivs, sondern es zieht sich die großen Flüsse entlang bis ans Meer.

Was ist daran Zauberei, was Magie? Ein Jüngling trifft im Walde eine alte Frau und hilft ihr, Reisig zu tragen, sie fragt ihn, wie sie ihm danken kann. Er erzählt ihr, er habe die Aufgabe, in ein fernes Königreich hinter dem Glasberg zu gelangen und wisse nicht, wie hinzukommen. Die Alte rät ihm, an einem See in der Nähe zu warten, bis abends zwölf Schwäne einfliegen. Sie legen die Federkleider ab und sind dann zwölf Mädchen, die nachts im See baden. Morgens fliegen sie wieder davon. Der zwölften soll der Jüngling das Kleid stehlen. Er tut es. Dafür, dass er es ihr wiedergibt, verspricht sie ihm, sein Weib zu werden. Sie ist die Tochter des Königs, dem das ferne Reich gehört, wohin der Jüngling reisen möchte. Will man dorthin gelangen, sind siebzehn große Ströme, siebzehn dichte Wälder, siebzehn weite Wüsten und siebzehn hohe Gebirge zu durchwandern. Über Nacht sind der Jüngling und seine Schwanenjungfrau dort angelangt. So geht es im Märchen zu, und auf ähnliche Weise gelangen wir, wenn wir wollen, einem hermetischen Trick zufolge in die Orte, wo Dittberner zuhause ist, nicht durch das Zurücklegen geographischfixierter Distanzen, sondern dadurch, dass wir alle Entfernung – vor allem die Entfernung zum Inneren unserer selbst – zu Nichts werden lassen mittels der Kraft des Vorstellens und Wünschens.

Wer die Aquarelle Dittberners betrachtet, kann bei richtigem Hinsehen feststellen, dass sie aus der Kraft des Wünschens und aus der Vorstellungskraft hervorgehen, und dass sich der Entstehungsprozess in den Stadien seines Werdens unmittelbar vom Blatt ablesen lässt. Am Anfang wird mit dem Pinsel ein feuchter Fleck auf das Papier gesetzt. Er ist der Keim allen Bildlebens, das daraus hervorgeht – Urzeugung. Am Anfang ist ein Hauch von Wasser, ein Hauch von Licht und ein Hauch von Farbe da, die sich allmählich ausbreitet und verteilt. Licht, Wasser, Farbe, das sind die Ingredenzien aller Atmosphäre, und aus dem Stoff, der die Atmosphäre schafft, einem Gebräu aus Wasser und Licht in unterschiedlicher Dichte von kaum wahrnehmbar hingesprühten Silberglanz bis zum Grau der dräuend geballten Kumuloswolke, aus dem Dunstgewebe also, in dem der Regenbogen verwahrt ist, entfalten sich allmählich die Imaginationen, von denen sich der Maler willig die Hand führen lässt. Masten erscheinen, Schiffe kommen gefahren, Wälder, Gärten, Häuser und ganze Städte tauchen aus dem Dunst, Gegenstände und Landschaften, in deren Scheingreiflichkeit sich die vom Künstler in einem Folium gefangene Atmosphäre selbst verdinglicht hat. Jetzt wissen wir, die Betrachter, wohin wir geraten sind, nachdem wir die vorhin beschriebene Siedlung, die uns zuerst als ein kleines Städtchen erschien, betreten haben – in ein geheimnisvolles Reich auf entlegenen Inseln, ein Reich, in dem sich aufzuhalten widersprüchliche Empfindungen weckt, - eine leichte Freude und ein leichtes Grauen zugleich, - die Orte, die Orte, in denen wir jetzt wandern, sie sind schon untergegangen und erscheinen unsereinem nur selten ab und zu, Thula, Atlantis, Vineta, Cythere, Orplid, - Kordulaska.

Dittberner ist – wie schon von anderen bemerkt wurde – ein Künstler im Stillen. Seine Arbeit wurde im Kunstlärm des Tages bisher nur von Kennern betrachtet, weniger aber von der sogenannten kunstinteressierten Öffentlichkeit in jenem weiten Sinne, in dem der Begriff heute meist gebraucht wird. Beim Schreiben kommt mir dazu ein Vergleich, der sich nicht verscheuchen lässt. Wenn man einmal an die ganze deutsche Literaturgeschichte des 19. und des 20, Jahrhunderts die Frage richtet, wer von all den Dichtern, die dazu gehören, derjenige ist, der im Spannungsbogen von Goethe, Schiller, Eichendorff und Hölderlin bis zu Benn und Brecht derjenige ist, dessen Werk die klarste Lyrik enthält, nicht etwa Gedankenlyrik, Reflexionslyrik und dramatische Lyrik, nicht etwa Lyrik als Beigabe zu einem großen literarischen Oeuvre, sondern reine Lyrik, nichts als Lyrik, das heißt, Lyrik in der reinsten Essenz ätherischer Feinstofflichkeit, so trifft man immer wieder – mir ergeht es jedenfalls o, und ich bleibe bei meiner Behauptung im vollen Bewusstsein ihrer Subjektivität – auf das äußerlich wenig umfangreiche Werk eines stillen, bescheidenen Dichters, an den man selten denkt, - Eduard Mörikes. Soweit es erlaubt sein mag, das Werk eines Dichters mit dem eines Malers zu vergleichen, ist zwischen Mörikes und Dittberners Weise, aus nichts als Luft, Licht, Wind, Wasser und Einbildung eine Welt für sich entstehen zu lassen, eine starke Verwandtschaft über die Zeiten hinweg zu finden. Orplid, - Kordulaska, das ist es nicht allein Mörike pflegte vertrauten Umgang mit den Elementargeistern, vor allem mit den Sylphen und Undinen, und er ließ sich von ihnen die Hand führen. Dittberner macht es genau so. Der Lärm hat anfangs immer die Macht über die Stille, doch so laut er auch sein mag, wohnt ihm doch die Eigenschaft inne, vorüberzugehen. Die Stille aber bleibt. Sie hat die Fähigkeit, den Lärm zu überdauern, - denk’ es, o, Seele!

Eberhard Roters