Horst Haack 1981
Galerie Lietzow

Text von Dietrich Mahlow

Mensch, halt dich fest

Da hat einer geglaubt, auf Ibiza im Mittelmeer die Freiheit zu sich selbst zu finden, aber erst in Paris ist er – ganz langsam – explodiert: plötzlich kamen alle die verlorenen und die gewonnenen Zeiten wieder: nichts als Bewegung, reine Bewegung der Zeit, der Erfahrung, des Körpers: immer der gleichen Zeit, immer der gleichen Erfahrung, immer des gleichen Körpers.

Da lag also etwas in den Schubladen: Aufzeichnungen, die die Zeit all der Jahre festgehalten hatten. Beim Aufschreiben haben sich Dinge und Eindrücke verändert. Verändern sich auch langsam die Erfahrungen? Von einem bestimmten Punkt an nicht mehr.
Wie diese gleich bleibenden Erfahrungen ausdrücken? So ja so: durch Aufzeichnungen. Im Grunde Wiederholungen, irritieren sie doch, man kann nichts aus ihnen lernen. Nichts.
Z.B. auf Tafel 9, Blatt 46 unten: "Aneignung der Form durch Absichtslosigkeit – Form in der Zeit (Bewegung)".
Oder daneben Blatt 48: "Der Inhalt des Gesichtes verblendet, und immer noch sehr durstig liegt Narziss..." oder vorher Blatt 14: "j'ai un peu roulé man brasse en Californie et en Arizona".
Die kurzen, vertikalen Morsestriche – die allzu Intimes, Banales auspunkten – bilden die beste Zeitmessung: nur Ablauf, aber nicht dem Sekundenzeiger folgend im Takt, sondern im vibrierenden, ungleichmäßigen Rhythmus der Hand, der Seele, der "Stimme als Abdruck des Gemüts".
Soviel Haack sich auch verändern mag: diese ewige Wiederkehr des Gleichen auf diese Weise gekennzeichnet, aquarelliert und geschrieben zu sehen, fasziniert mich, gibt mir Hoffnung, macht das Leben leichter...Wieso? Wieso macht die Kunst das Leben erträglicher?

Zuerst haben die Zeichen besondere Wichtigkeit, persönliche Bedeutungen, unbewusste Symbolik zeigt sich á la Freud: aber dann werden all die Zeichen bekannt, man liest die Seiten nicht mehr von neuem, man betrachtet Einzelheiten, ja ich behaupte, man wird – auch wenn man die Blätter besitzt – sie vielleicht nie alles lesen. Aber das macht nichts: diese Zeichen der Zeit vor sich zu haben, um sich zu haben, die nichts bedeuten, dem Leben keinen Sinn geben, die Erfahrungen nicht vergrößern, sondern immer nur die gleichen Erfahrungen wiederholen: das ist tröstlich, das ist ästhetisch und deshalb tröstlich. Gib mir ein Zeichen, einen Wink, auch wenn du mich nicht liebst: das macht leicht, es hilft. Es ist auch kein Glaube darin, keine Erkenntnis in dieser Erfahrung: es ist nur die Erfahrung der Zeit selbst, die nichts als Wiederholung ist. Die Sichtbarmachung der Wiederholung der Zeit, der Erlebniszeit – geordnet in 50 Blättern pro Einzeltafel, d.h. geordnet nach einem Schema, wenn es auch noch so unaufdringlich zum Inhalt sich verhält, es ist doch ein Schema, praktisch für Ordnung und Ausstellung.

Erfahrungen. Erfahrungen reihen, sammeln: nichts bessert sich. Ich lebe nur. In einer Verfassung, die nicht schlecht ist, trotz Nichtgeldhaben, trotz Geldhaben, mit Liebe, ohne Liebe – und wieder mit Liebe, und wieder ohne...

Die Blätter strahlen mit ihren eigenartigen Farben (woher kommen sie?) etwas aus von der gelassenen Abkehr vom Tafelbild, von der abendländischen Sucht der Sinngebung. Sich im Sinnlosen der Zeit einzurichten, macht froh, macht tief innen heiter: das irdische Himmelreich ist Ihres: le ciel terrestre est le votre, Monsieur Haack.
Seine Malerei? Alle Blätter überzieht eine Bewegung, die auch aus den Ansätzen geometrischer Formen Lebewesen macht, die aus Steinen Schildkröten, aus Geräten Schlangen und aus Dingen Zeichen macht: Formen in Bewegung. Klare Formen, aber nicht statische: Malerei auf der Krümmung der Erdoberfläche, auf der Krümmung der Zeit, in der Bewegung des Wachstums, des Werdens und Vergehens.

Ich bin ganz ruhig
ich zittere gar nicht
bist du ganz ruhig
ja ja nein nein

Erfahrungen und Einsichten fallen zusammen, die sowohl tief in der Kultur des Abendlandes gründen, als auch in der Weisheit Ostasiens: es gilt, die Zeiterfahrungen beider zu verbinden.
Ein großer Versuch: nicht der Illusionierung von Bewegung, sondern der künstlerischen Fixierung, ohne dass das Geringste von der Bewegung verloren geht, im Gegenteil: so wird sie, die unheimliche, selten beachtete, tiefsitzende Bewegung der Zeit sichtbar – und spürbar in mir selbst als Zeichen in dieser Zeit.

D.M.