Hermann Schenkel 1985
Galerie Lietzow

Text von Godehard Lietzow

Hermann Schenkel: Ein moderner Kunstnomade

Heute über Zeichnung zu sprechen, ist unpopulär. Beuys und Twombly: Ja – Götter strahlen vom Olymp herab. Doch da gibt es noch andere, die inmitten des so handelsträchtigen Mal- und Farbenrausches der Neuen Wilden, der Heftigen, Zeichnungen fertigten und sich zeigten.
Einer von Ihnen, und der derzeit sicher der spektakulärste unter den neueren Zeichnern in Deutschland, ist Hermann Schenkel.
Seit der heute Siebenunddreißigjährige vor drei bis vier Jahren erstmals eine Serie von mittelgroßen figurativen Blättern vorlegte – Tuschfeder-Zeichnungen, freie Adaptionen erotischer Hockey-Themen – ist er in das Szenen-Blickfeld der Kunst getreten. Ich gestehe, dass ich keinen Zeichner kenne, dessen künstlerische Entwicklung so rasant und entschieden von den Anfängen zu jener spezifischen Diktion der Zeichnung fortführt, die sich heute mit seinem Namen verbindet.

Worin nun besteht die außerordentliche Eigenheit Schenkels? Augenfällig ist zunächst das Format seiner Zeichnungen: oft große, bildhaft dimensionierte Blätter, die von vornherein Zeichnung nicht mehr als intime Notation verstehen lassen. Schenkel arbeitet nicht am Tisch, sondern an der Wand und auf dem Fußboden. Die Großräumigkeit seines Ateliers im oberschwäbischen Schweinhausen fordert allein schon Großzügigkeit in Fläche und zeichnerischer Bewegung heraus. Nicht die seismographische Vibration der Fingerspitzen ist durch die räumliche Gegebenheit gefordert, sondern die Bewegung der Hand, des Arms, des Körpers auf großer Fläche. Die äußere Herausforderung mag hier die eigene künstlerische Motivation mobilisiert haben. Im instrumentalen Bereich führte dies von Tusche und Feder fort zu Bleistift, Kohle und Kreide und weiter zu jenem Mittel, das Schenkel, obwohl es schon vor Jahren Versuche gab, erst in letzter Zeit ausgiebig praktiziert: das Zeichnen mit der Farbspraydose. Abermals: Ausweitung des Formats hin zum Überpersönlichen, zum Großbildhaften. direkter Anlass für die nun schon mehrmonatige Arbeit mit der Spraydose ist ein Wandbild-Auftrag.

Die instrumentale Dimension in Schenkels Arbeit habe ich schon angedeutet. Keine Zone der Kunst, wenn ich einmal den undifferenzierten Pauschalblick aufs Ganze eines Kunstwerks verlassen habe, verrät mehr über die Kunst und den Künstler, als die instrumentale Handhabung der Mittel. Das andere, die ideelle oder emotionale Konzeption, oder mag man es gar als das "Geistige" in der Kunst suchen, bleibt unauffindbar ohne die instrumentale Realisation. Die Instrumente – hier die Zeicheninstrumente wie Tuschfeder, Bleistift, Kohle, Kreide, Farbspraydose – bestimmen durch ihren Eigencharakter der Verlauf des zeichnerischen Prozesses und das künstlerische Resultat. So wie im Bereich der Musik Flöte oder Klavier aus ihrer instrumentalen Bedingtheit gänzlich unterschiedliche musikalische Ergebnisse bewirken, bewirken Tuschfeder, Kohle oder Spraydose gänzlich unterschiedliche Resultate. Die künstlerische Intention wird instrumental beeinflusst, gelenkt, ja, bestimmt. Selbst die Größe einer Zeichnung und die Proportionen der zeichnerischen Struktur werden vom Zeicheninstrument vorgeschrieben. Intimität oder Monumentalität: das ist primär eine Frage der Entscheidung zwischen diesem oder jenem Kunstmittel. Einem Künstler sind diese Tatsachen aus der praktischen Erfahrung geläufig. Wenn es stimmt, dass der Betrachter das Kunstwerk durch sein Sehen miterschafft, dann muß auch er sich mit der instrumentalen Dimension der Kunst befassen. Andernfalls bleibt die Kunst im Sack der Ignoranz.

Hermann Schenkel ist Instrumentalist. Er liebt die Mittel, die er nutzt und kennt ihre spezifischen Dimensionen durch das tägliche, vielstündige Training. Er mischt die Mittel, fügt zu Kohle Kreide oder Tusche, zum Farbspray Kohle oder kompakte Pinselfarbe. Er spielt mit den Mitteln, oft in einer faszinierend virtuosen Weise. Zur Mischung der verschiedenen Zeichenmittel kommt die Variation im Umgang mit dem Einzelmittel. Die weiche, melodiös fließende Lineatur der Kohle-Umriss-Zeichnung wird von grober Schraffur, von sparsamer Tuschlavierung contrapunktiert oder von Farbkreide-Lineamenten akzentuiert. Das steigert die inhaltliche Prägnanz ebenso wie die innerkompositorischen Gewichtigkeiten.
In einigen Arbeiten geht Schenkel noch weiter. Er verdichtet die Kreide-Schraffuren, überlagert sie immer aufs Neue, bis kompakte Farbfläche entsteht. Das zeichnerische Element tritt zurück, wird flächenbelebende Struktur oder verdichtet sich hin zur Kreide-Malerei.

In seinen neuesten, 1985 entstandenen Blättern vollzieht Schenkel einen noch entschiedeneren Schritt. An die Stelle der gewohnten Mittel, wie Kreide und Kohle, ist die Farbspraydose getreten. Was Schenkel an diesem Mittel reizt, ist das Ungewohnte, das Unerprobte und die Riskanz des Arbeitsprozesses: der Widerstand des Neuen.
"eine Kohle-Linie ist immer schön", sagt Schenkel. "Mit der Spraydose zu zeichnen, erfordert Konzentration. Man muß den richtigen Abstand zum Blatt finden und schnell und gleichmäßig über das Blatt gehen, sonst gibt es keine klare und zusammenhängende Linie, und die Farbe läuft runter und es gibt Nasen". Wieder ist es die instrumentale Dimension, die Schenkel beschäftigt. Schwierigkeiten des Instruments locken ihn. Die Spritzpistole, mit der alles ja viel leichter wäre, lehnt er für sich ab. Und er fügt hinzu: "der Harald Nägeli ist schon recht gut".

Das neue Instrument zwingt den Künstler die gewohnten Zeichen-Dimensionen zu verlassen. Die Arbeitskriterien des tradierten Zeichnens sind nicht mehr übertragbar. Die breite Spray-Spur erfordert großzügige Bewegung, die zur monumentalen zeichnerischen Nennung führt. Subjektive Nervositäten und Sensibilitäten lassen sich nicht mehr direkt übermitteln. Die zeichnerische Aktion folgt objektivern Forderungen und vollzieht sich instrumental. Unerlässliches Zuatzgerät bei der Arbeit ist die Schutzmaske. Parallel zu seinen Kohle- und Kreide-Zeichnungen, überlagert Schenkel auch in seinen Spray-Blättern oft Zeichnung mit neuer Zeichnung. Mehrere breite Spray-Linien nebeneinander, übereinander, ergeben schnell eine Fläche. Farb-Überzeichnungen, das Fumato der weiche, ineinander-schwingenden Spray-Spuren und, als letzte instrumentale Neuerprobung, die großzügige gestische Zeichnung mit breitem Pinsel führen zu künstlerischen Ergebnissen, in denen sich Zeichnung bereits in Malerei umwandelt.

Hermann Schenkels dynamisches Naturell lässt kaum eine definitive Festlegung zu. Sein Geist sucht den Widerstand und er findet ihn in der Erprobung der Kunstmittel, in denen er sich und sein Talent bislang noch nicht bestätigt fand. In einem Gespräch sagte ich Schenkel, dass sein Weg, wenn ich von seinen letzten Arbeiten ausgehe, hin zur Malerei führe. Schenkel widersprach: "Ja, vielleicht. Aber in erster Linie werde ich immer Zeichner bleiben."

Was ist es, was einen Zeichner zur Zeichnung bekennen lässt? : Es ist die deutliche lineare Nennung, die klare Formulierung. "In der Malerei kann man schummeln. Malerei ist ungenau. Sie verschleiert mit Farbe Fehler, In der Zeichnung sieht man alles, auch, ob eine Hand, ein Bein, ein Kopf richtig oder falsch formuliert sind.
Nennungen, Formulierungen. Das führt von den Kunstmitteln fort, hin zu den Inhalten, den Darstellungen, besser gesagt: den Bekenntnissen. Schenkels zentrales Thema ist seit vielen Jahren der Mensch, das eigene Ich, das Du, vorrangig männlich figuriert, doch keineswegs ausschließlich. In vielen seiner Blätter ist eine erotische Spannung spürbar. Am eindeutigsten heute sicher in der nackten Körperlichkeit seiner weiblichen Figurationen oder in der Darstellung von Paaren.

Weniger als früher sind Schenkel Figurationen in Gruppierungen zueinander gestellt, sondern als blattfüllende Einzelgestalten gezeichnet. →Bekleidete Sitzende, Hockende, Gebückte, Stehende in zufällig scheinender Pose, selten in Aktion: Wartende, erwartende, →Sinnende, Traurige, einsame, zurückgelehnt in einen Sitz, oder Arme und Kopf auf den Tisch gestützt, den hungrig-traurigen Blick direkt auf den Bildbetrachter gerichtet. Paare sehen sich selten an. einer ist immer Aktiv-Figur und fixiert mit seinem Blick den Betrachter, sucht aus der bildlichen Darstellung hinaus oder weist ihn, so, als ob die eigene einsame Befindlichkeit gestört würde, blickstark ab. Schenkels Menschen-Darstellungen erscheinen als intelegibel-sensitive Wesen: Zeitgenossen – in ihrer einsam-fordernden, traurig-blickenden Beschaffenheit. Vorrangig sind →Schenkels Menschen jüngere Männer, diesseits des biblischen Sündenfalls, die ganze Fülle lust- und leidvoller Lebenserfahrung in den Gesichtern und Körperhaltungen vergegenwärtigend. (Foto)
Es sind vor allem die Gesichter seiner Bildgestalten, in denen Schenkel psychologische Intensität vermittelt.

Das Körperliche zeigt sich in formaler Pose. Der Leib ist verhüllt, ist unter Faltenwürfen, Straffungen und Mustern der Kleidung erahnbar. Die gelegentliche Geste der Hand, die hochgezogene Schulter, der gewinkelte Arm, das geknickte Knie lassen ihn andeutungsweise erspüren. Oft versinkt alles um das Gesicht herum in graphischen Lineamenten, in zeichnerischer Spur und den überlagernden dynamischen Linien der Bildordnung. Der Bildszenarische Umraum der Figuren erhält zusätzliche Contrapunktion durch metaphorische Zeichen: Köpfe, Gesichter, wie ein Bild im Bild, wie Spiegelung, wie eine statuarische Büste. Dazu, in knappem Zeichen-Zitat, die Dinge der Umwelt: Tisch, Sessel, Glas, Gefäß, Pflanze, Früchte.

In den neuen Spray-Arbeiten konzentriert sich die Bild-Aussage oft allein auf das Gesicht: Knappe, einfache Umriss-Nennungen, keine nervöse Zeichenstruktur, kein psychisch intensiver Ausdruck mehr. Die Traurigkeit, die Einsamkeit in den Gesichtern ist entpersönlichte, objektivierte Nennung. Vom instrumentalen Mittel der Spraydose mitbestimmt, entsteht ein graffitohaftes Zeichen-Bekenntnis: Der Mensch als Mann – oder in den ambivalenten Wandlungen, Verwandlungen seiner Seele, seines Bewusstseins – ist einsam. Sein Blick scheint von weit hinter der Bildfläche zu kommen und richtet sich aus dem Bild-Vordergrund heraus auf den Betrachter, auf ein Ständig wechselndes Du. Erträumte Figur und Kunstfigur sind im Laufe der Zeit identisch geworden.
Wie in aller Kunst ist das eigene Ich immer Ausgang und Zentrum der Bild-Mitteilung. Die abstrakten Mittel der Kunst, die Gewöhnung an gewisse code-ähnliche Erkennungszeichen, verleiten uns zur Illusion von Mit-Erkenntnis. Selbst-Identifikation und Deutung.

Wie wenig verlässlich und stimmig jede Interpretation ist, weiß am besten der Künstler. dass künstlerische Arbeit auch eine ständige Beschäftigung mit der Kunst an sich und all ihren Erscheinungsformen ist, und dass letztlich der instrumentale Eigencharakter der Arbeitmittel das Ergebnis mitbestimmt, ist eine Wahrheit.

Die existierenden Kunstbeispiele, ob Matisse, ob Schiele oder all die vielen anderen im Spannungsfeld zwischen apollinischer Klarheit und existenziellen Ausdruck, sind nun einmal im Kopf des Künstlers. Die Beschäftigung in Kunst ist gleicher Weise die ständige Beschäftigung mit der Kunst. Die visuelle Sprache des Zeichnens bedeutet für einen Zeichner die tagtägliche Auseinandersetzung mit dem Vokabular, der Grammatik und Interpunktion zeichnerischer Kürzel und Formeln. Die Überprüfung überbrachter Zeichen auf ihre subjektive und objektive Gültigkeit, der Widerspruch gegen sie und der Versuch zu einer anderen, selbst-authentischen Bild-Formulierung sind die immer wiederkehrende Realität des Zeichners. Sollte ihm, dank seines Talents, glücken, die eigene Zeichen-Formulierung auch in den Kopf des Betrachters zu setzen – als visuelles Signal zur Reflexion und Erkenntnis – so hat er gesiegt. Schenkel ist dies geglückt. Seine Kunst in ihrer Authentizität heutig: in ihren Mitteln, in ihrer handwerklichen Technik und in ihrer Bild-Konfession.

Aber Schenkels vitale Unruhe drängt auch weiter, verlässt die vom eigenen Talent einmal erprobten Zeichen-Zonen und begibt sich in unbekannte Regionen. In seinem kleinen Heimatdorf praktiziert er in hochkarätiger Weise Kunst aus und in einem großstädtischen Geist. In seiner weitertreibenden geistigen Unruhe ist er ein moderner Kunst-Nomade.

Godehard Lietzow