Giuseppe Madonia 1987
Galerie Lietzow

Text von Godehard Lietzow

MADONIA
I
Der Name seiner Familie ist der Name eines Gebirges südlich von Cefalù, südlich von Palermo. Diesem Gebirge entstammen seine Vorfahren. Giuseppe Madonia selbst wurde 1958 als drittes von fünf Kindern des Antonio und der Rosa Madonia in Palermo geboren. Hier auch verbrachte er seine Kindheit, seine Jugend.

Schon früh verließ er das Elternhaus und lebte das Leben eines freien Künstlers. Mit siebzehn Jahren gründete er gemeinsam mit Freunden eine kleine Theatergruppe, die provokativ-experimentelles Theater und Performances erarbeitete und der Öffentlichkeit vorstellte. Daneben malte Madonia: großformatige Leinwände, die bereits damals jene spezifischen Figurationen aufwiesen, die Madonia zehn Jahre später, in Berlin, in kleineren Formaten zu seiner eigenen Bild-Ikonographie verdichtete.

1979 erhielt Madonia seine erste Einzelausstellung in der Kommunalen Galerie der westsizilianischen Stadt Trapani: eine Ausstellung ohne jeden kommerziellen Erfolg. Es folgten Jahre der künstlerischen Irritation und des malerischen Selbststudiums, das sich mit den Vorbildern der Renaissance, insbesondere mit Leonardo da Vinci, beschäftigte.

Schließlich, resigniert und beirrt, ließ Madonia die Malerei – anscheinend für immer – hinter sich. Die Theaterarbeit trat in den Vordergrund. 1983 wechselte er seinen Wohnsitz von Palermo nach Venedig und gründete mit Freunden die Theatergruppe "Tea acido".

Doch, auf den Sizilianer Madonia, der dem eruptiv-kreativen Chaos Palermos entstammte, wirkte die schöne Lagunenstadt in ihrem kulturellen Provinzialismus geradezu wie ein Sedativum.

Allein das Zusammenleben mit den Künstlerfreunden in einem prächtigen alten Palazzo hielt ihn für einige Monate. Aus weiter exotisch-nordischer Ferne lockte eine andere Stadt mit dem faszinierenden Chaos ihrer modernen Urbanität und dem Geist ihrer jugendlichen Kreativität: Berlin. 1984 übersiedelte Giuseppe Madonia dann in die Stadt der schon damals etablierten "Neuen Wilden". Hier erlernte er die deutsche Sprache und verdingte sich in verschiedenen Jobs und begann schließlich, nach Jahren der Enthaltung, erneut zu malen. Eine erste Einzelausstellung in Berlin, die die Galerie Lietzow 1986 realisierte, weitete sich für Madonia zu einem außerordentlichen Erfolg aus, der von da an das Leben des jungen Sizilianers von Grund auf veränderte.
Giuseppe Madonia ist heute Maler und als solcher in der jungen Berliner Kunstszene von spezifischer, unverkennbar eigener Qualität.

II
Das spezielle der Malerei von Giuseppe Madonia drückt sich bereits in der Wahl der künstlerischen Mittel und in der besonderen Handhabung dieser Mittel aus. Papier und Karton vereinzelt auch die Leinwand, sind die Träger seiner Malerei. Das Mittel ist das Öl-Pastell, jene elastisch malenden Farbstifte, die landläufig auch als Ölkreide bezeichnet werden. Im Gegensatz zu den meisten Künstlern nutzt Madonia dieses Mittel nicht zeichnerisch, sondern malerisch, also: flächendeckend, nicht linear. Auf dem Papier, dem Karton mischen sich die weichen Farben durch Überlagerungen, oftmals aus vielen übereinander liegenden Schichten – bis jene Farbigkeit erscheint, die erwünscht ist. Der Auftrag der Farbmaterie erfolgt in gleicher Weise sensibel wie kraftvoll. Behutsame Tönungen, oft mit den Fingern gemalt, und in quasi-automatischer Vehemenz dicht auf dicht gefügte Farbschraffuren schaffen eine dynamische Bildoberfläche. Das Materielle der Farbe und der Duktus des Auftrags bleiben sichtbar und geben Madonias Malerei visuelle Haptik und Lebendigkeit.

Die Klinge eines Skalpells oder Spachtels greift attackierend in den Malprozess ein. Dicklagrige Flächenschichten werden abgekratzt, an anderer Stelle aufgetragen, mit dem Finger verrieben. Tiefer liegende Farbschichten treten Spurweise hervor. Die Heilheit wird angegriffen, die Homogenität des Farbauftrags wird zerstört.

Bildoberfläche weist Wunden und Schrunden auf: Verletzungsspuren einer kämpferischen Auseinandersetzung um die eigene malerische Wahrheit.

Das Ergebnis ist eine Bildfarbigkeit, die nur wenig mit der bloßen Ausgangsfarbe zu tun hat. Madonias Bildfarbe ist durch den malerischen Prozess von bloßer Farbmaterie zu jener sehr persönlich geprägten Farb-Tonigkeit sublimiert, die das Wesen seiner Bilder, unabhängig von der jeweiligen ikonographischen Formulierung, maßgeblich bestimmt. Ja, sie ist letztlich das Wesen, die Seele dieser Malerei.

In letzter Zeit tritt neben die sogenannte "Trockenmalerei" mit Ölpastell-Stiften die Malerei mit Ölfarbe auf Papier, vereinzelt auch auf Leinwand. Das Instrument, dessen sich Madonia hierbei bedient, ist der Malspachtel, seltener und bestenfalls ergänzend, der Pinsel. Mehr noch als bei der Ölpastell-Malerei wird Ölfarbe als plastisch sichtbare Materie behandelt. In fester, unverdünnter Form wird sie mit dem Spachtel aufgetragen, verteilt, verarbeitet. Die Malspuren, die diese Technik hinterlässt, geben auch den Ölbildern visuelle Haptik und Lebendigkeit.

III
Dem sehgeübten Betrachter von Madonias Bildern fällt primär auf: der lateinisch-mediterrane Charakter, der italienische Geist, der diese Arbeiten kennzeichnet: Zeichnung und Form sind dominant und stehen in entschiedener Beziehung zueinander. Klar und entschieden umreißt die Kontur-Zeichnung die inhaltlichen Notationen – straff und einfach gefügt ist der Aufbau der Bilder.

Lediglich in den Öl-auf-Papier-Arbeiten setzt Madonia direkt und ohne zeichnerische Abgrenzung Farbform gegen Farbform. In den Öl-Pastellen wiederum verselbstständigt sich die Kontur-Zeichnung oft von der bloß abgrenzenden Lineatur zur expressiv dunklen Formulierung. Sie wird wesentliches Element der Gestaltung und des in sie untendierten künstlerischen Ausdrucks.

Auffällig ist der auf geometrische Strukturen reduzierte Bildaufbau: Quadrat, Rechteck, Dreieck und Kreis – oder ins Räumliche figuriert: Kubus, Quader, Zylinder, Kegel und ihre Varianten – sind die Basis-Elemente des Bildaufbaus und in gleicher Weise die Requisiten des bildlichen Szenariums.
Als entschieden italienisch aber mag man vor allen Dingen die sensibel modulierte Malerei von Madonia registrieren.

IV
Fläche und Raum stehen in Madonias Bildern häufig in fließender Wechselbeziehung zueinander, sind austauschbar. Geometrische Lineamente suggerieren vereinzelt Nähe und Ferne – doch bei genauerer Sicht erkennt der Betrachter das ironische Irrspiel. Räumliche Staffelungen sind selten. Und auch die Farbe in ihrer Eigenschaft als Raum bedeutende Qualität führt den Blick in die Irre, das heißt: vom Raum zurück zur Fläche und hin zu einer anderen Deutung ihrer Qualität.
Schließlich: selbst das Licht, das Hell und das Dunkel, die partielle Beleuchtung einzelner Figuren und Dinge, ihre plastische Wirkung schaffenden Abschattungen führen zu keiner eindeutigen Klärung von Raum und Fläche. auch Hell und Dunkel beinhalten in Madonias Bildern andere Wertigkeiten, die jenseits der konkreten Raum-Anschauung zu suchen sind.

V
Madonias künstlerische Verwandtschaft zu den großen metaphysischen Malern vom Anfang des Jahrhunderts, namentlich zu Carlo Carra, wurde gelegentlich zitiert – erweist sich aber bei genauer Betrachtung kaum mehr als latend. Gemeinsam mit jenen Meistern ist Madonia gewiss die "maniera italiana", die italienische Art einer klaren Bildfindung. Gemeinsam mit ihnen ist ihm auch die Schaffung von Bildern, die dem Betrachter Rätsel aufgeben.
"Heimweh nach dem Unvollendeten" lautet ein Bildtitel Giorgio de Chiricos.
Es waren die Philosophen Schopenhauer und Nietzsche, die als erste im 19. Jahrhundert die Bedeutung des Nicht-Seins des Lebens lehrten und, so de Chirico, "wie dieser Nicht-Sinn zu verwandeln sei in der Kunst".
Was Madonia grundsätzlich von den Metaphysikern unterscheidet, ist die subjektive Expressivität seiner Bild-Formulierungen, ist die subjektiv-psychische Gestimmtheit seiner Bilder.

VI
Was Madonia malerisch sichtbar macht, ist nicht das Abbild des Umwelt-Scheins, nicht das Konterfei der sogenannten Realität. Seine Bilder sind Bilder im Sinne der "imago", Sinnbilder und Nicht-Sinnbilder einer seelisch-geistigen Erfahrung, aus Wunsch, aus Traum, aus der Fülle von Visionen und Registrationen figuriert sich diese Bildwelt.

Zentrales Thema ist immer der Mensch. Madonia formuliert diesen Menschen nicht individualisierend, sondern typisierend: oft als fast zur Chiffre verknappte Gestalt. Selbst in jenen Bildern, in denen die menschliche Gestalt abwesend ist, in denen nur Gehäuse, Burgen, Türme von der Gegenwart seiner Abwesenheit künden, oder aber die Dinge – zum Beispiel ein Gefäß, eine Vase, eine Schale – quasi-menschliche Körper- und Wesenhaftigkeit ausdrücken, ist er gegenwärtig.

Masken schweben durch ein somnambules Nachtblau oder schauen mit dem traurig-strengen Blick des Pantokrators den Betrachter an: Gegenwart eines subjektiv-psychischen Befindens: Gegenwart des Menschen in den Dingen.
Im Mittelpunkt der sehr eigenständigen Bildfindungen Madonias aber steht die Gestalt des "→antigrazioso", des ungraziösen Jungen. der "antigrazioso" ist Sinn- und Nicht-Sinnbild des einsamen Menschen – ohne direkten Sinn-Bezug zu den Dingen, die ihn umgeben – ist Sinnbild des Schein-Sinns oder Nicht-Sinns schlechthin. allein der Himmel hinter und über ihm ist noch sinnvoll da, das Universum, der Tag, die Nacht – und die Erde, auf der er steht und ihre Kraft als Dampf und Rauch aus einem Schornstein stößt.

VII
Madonias Bilder sind ernst, oft melancholisch, temperiert. Aus dem Spannungsfeld und in der Wechselbeziehung von Bewusstsein und Unterbewusstsein, von Realität und Traum, von Sein und Schein, von Lust und Leid, von spielerischer Heiterkeit und tief verwurzelter Traurigkeit fügt sich die faszinierende Eigenartigkeit ihrer Imaginationen.

In ihren nur selten direkte Nennung anzeigenden Titeln teilt sich die Poesie dieser künstlerischen Realisation noch einmal mit. Es ist eine Poesie, die aus den Wechselwirkungen des subjektiven "Innen" und des objektiven "'Aussen" erwächst und die letztlich Sinnbilder des Lebens einfängt: Heutige Bilder und gleichzeitig Bilder eines uralt und archaisch anmutenden Sein-Empfindens.

In und durch die Wechselbeziehung von Wertigkeiten verraten die Bilder Madonias ihre Herkunft aus der Jahrtausende alten sizilianischen Kultur und Geistigkeit. Ein großer sizilianischer Dichter dieses Jahrhunderts war es, der wie kein anderer die Frage nach dem Sein und nach dem Schein, nach dem Willen des Geistes und dem Empfinden der Seele zur Frage dieser Zeit, zur Frage unseres menschlichen Ich- und Realitäts-Verständnisses erhob. Ich meine Pirandello. Seine vielfach variierte Frage war letztlich die Frage: Was ist Wahrheit? – oder, differenzierter ausgedrückt: Ist Wahrheit der äußere Schein oder ist Wahrheit das innere Befinden, das eigentliche Sein?
In seinen Bildern stellt Giuseppe Madonia mit bildnerischen Mitteln die gleiche Frage!

Godehard Lietzow