Roger David Servais 1987
Galerie Lietzow

Text von Verena Tafel

Was ist das – Erinnerung?

Wie kommen sie zustande, jene Bilder, die Momente aus vergangenen Zeiten vor Augen führen?
Ist es ausschließlich das eigene Erleben, das auftaucht, gelockt von einem Ton, einem Duft, einem Augenblick?
Wie soll man dem begegnen, was ungerufen, unwillkürlich plötzlich dasteht, das Phänomen "Deja-vu" des Wiedererkennen?
Die Möglichkeit auszuweichen, sie galt nicht für Roger Servais. Denn mit dem, was ihm sein Gedächtnis an Bildern brachte, schloss sich ein Kreis, der in sich die Kraft barg, ein bislang verschlossenes Reservoir von Motiven zu öffnen.
So stehen neben der stilistischen Wiederentdeckung, dem auftauchen einer Mal- und Sehweise aus früherer, vergangen geglaubter Zeit nun Bilderfindungen, aus denen nicht nur die unmittelbare Erinnerung an bestimmte Situationen, gewisse Gebärden und einen ach so flüchtigen Moment sprechen. Vielmehr sind sie durchzogen von der Erinnerung an eine ältere Vergangenheit. Sie ähneln damit jenen Träumen, deren Bilderflut aus anderen Quellen sich speist als aus dem aktuellen Alltagsleben.

Roger Servais' Motivwahl bewegte sich in den Jahren zwischen 1964 und 1970 im Rahmen des Traditionellen: Maler und Modell, Modell im Atelier. Seine Formen prägte die intensive Beschäftigung mit Paul Cezanne. Das jedoch, was jene Bilder, wie die aus dem Jahr 1968 mit denen der letzten beiden Jahre, was den Bogen schlägt vom einst zum heute ist die Ausstrahlung: die meditative Stille, die Innerlichkeit.

Das darauf folgende Jahrzehnt brachte die Entdeckung des freien Gestus und den rauschhaften, den unbekümmerten Umgang mit der Farbe. Kürzel, Zeichen, Symbole wurden Servais zu Farbträgern. Lodernd und flammend tanzten seine Linien auf der Fläche, in der er ganz bewusst blieb. Die Unruhe Westberlins forderte Tribut. Der fiebrige Pulsschlag der Potsdamer Straße, wo der Maler eine zeitlang sein Atelier hatte, bestimmte auch seinen Rhythmus. Die Trommeln der Nacht, die Sirenen des Tages – unentwegtes Staccato. Unmöglich, sich dem zu entziehen.

Und doch, ein steter Fixpunkt blieb. Beharrlich kreiste Roger Servais sein Zentralthema ein, den Menschen. Auch in den Zeiten fast völliger Gegenstandsauflösung suchte er nach dessen wesentlichen Merkmalen. Immer beschäftigte ihn als zentrales Anliegen die Formulierung der Quintessenz, des Charakteristischen. Dieses war und ist ihm weniger Kennzeichen eines Individuums, als vielmehr Indiz für Allgemeingültiges, für den Typus. Unterschwellig, oft verborgen, liegt diese Suche wie ein Leitfaden dem gesamten Schaffen zugrunde.
Eine Reise markiert den Abschluss des Jahrzehnts, in dem das eher Laute, das Nervöse, die Bewegung dominierte. Die Jahreswende 1984/85 erlebte Roger Servais in Israel. Lange Vorbereitungen waren vorausgegangen. Die Wiederannäherung an die jüdische Kultur, das Lernen der hebräischen Sprache hatte viel Zeit in Anspruch genommen. Zweierlei wurde dann entscheidend für den Maler Servais.
Zum einen war es die Erfahrung des Lichtes, der mediterranen Atmosphäre. Daneben aber stand die Begegnung mit einer uralten und doch immer noch kraftvollen Kultur. Die Konfrontation führte zur Selbstbefragung. Welchen Wert hat Tradition? im eigenen Kulturkreis? Für die eigene Person?

Berlin war bislang lebensbestimmend, trotz belgischer Herkunft der Familie. In Berlin hatte er an der Hochschule für bildende Künste studiert, als freier Künstler in beiden Teilen der Stadt gelebt. Nun jedoch verbrachter er bewusst den Sommer des Jahres 1986 in Brüssel. Und hier fand Servais zu jener Farbigkeit, die so eigentümlich glasklar hell, zugleich aber so unendlich verhalten, zart und gebrochen schimmert. Hier fand er zu Farbverbindungen, die ganz und gar nicht geläufig sind, zu perlmuttartigen Rosatönungen, grünblaubraunen Schatten. Es sind Töne, die leise klingen, behutsam, sanft, ja wehmütig das gesamte Bild überziehen und jeden Quadratzentimeter zum Stimmungsträger werden lassen. Ist der Farbklang mancher blendend heller Passagen zum Trotz ein wehmütiger, so steht er damit im Einklang mit der Melancholie der Inhalte. Akte, die weder gehen, noch stehen, die sich einfach befinden, in Räumen, die ihrer eigenen Nacktheit entsprechen. Paare, die im Augeblick des Gleichklanges, der Parallelität verharren. Nichts bewegt sich. Die Pose herrscht. Die Pose, die das Ideal unterstreicht, das wiederum zum Symbol wird. In lautloser unbewegter Stille, in unendlicher Ruhe, wie sie frühen antiken Statuen zu Eigen ist. Ereignis ist allein das Licht, das Farben modelliert, das Schatten wirft, das einzelne Partien leuchten lässt und Formen gegeneinander abgrenzt.

Sparsam, beschränkt, aufs Äußerste reduziert geht Roger Servais mit ihnen um. Nichts lenkt den Blick vom Wesentlichen ab. Die Konzentration auf Form-Materie und Raum-Licht-Lösungen erhöht Alltägliches zum Magischen. Ob eine Frau bügelt (→Abbildung 1), ob ein Hündchen kauert (→Abbildung 2), beide Motive behandelt Servais mit der gleichen Ernsthaftigkeit, dem gleichen Gewicht. Denn beides sind Sinnbilder, Metaphern, deren Aufschlüsselung er dem Betrachter überlässt.

Manchmal gibt er Stichworte, etwa, wenn er zitiert.
Beispielsweise ein Detail wie den pflügenden Bauern im Vordergrund von Pieter Breughels Bild "Landschaft mit dem Sturz des Ikarus" aus dem Brüsseler Museum, den er hinter einer Wand herausschauen lässt, vor der eine Aktfigur die Arme an die Schultern führt.
(→Abbildung 3) Auch dieses Zusammenspiel von Innen- und Außenwelten hat Vorbilder. Schon bei den ersten niederländischen Malern, bei Jan van Eyck, aber auch bei dem Belgier Rogier van der Weyden taucht es auf. Wenn Servais dann das Brüsseler Rathaus und die Turmspitze der Kathedrale im dunstigen Himmel des Hintergrundes zeigt, vor dem er sich selbst im Gebetsmantel, dem Tallith, mit den Schläfenlocken, den "Pyeles" und dem schwarzen, flachen, breitrandigen Hut malt (→Abbildung 4), so werden unversehens Erinnerungen an die frühe Epoche flämischer Malerei geweckt. Auch das niederländische 17. Jahrhundert mit seiner Blüte der Interieur-Darstellung scheint Servais nicht unberührt gelassen zu haben. Pieter de Hooch etwa, aber auch Jan Vermeer führen Blicke von einem Zimmer durch geöffnete Türen oder Durchgänge in dahinterliegende Räume, die zumeist von silbrig-kühlem Licht durchflutet sind.

In welchem Maß die Reise nach Brüssel Roger Servais ganz konkret die Wiederbegegnung mit den holländischen Meistern gebracht hat, ist nicht wichtig. Entscheidend ist die Summe all jener äußeren und inneren Eindrücke, die ihm zum Durchbruch einer veränderten Sicht- und Malweise verhalfen. Mit den Bildern in dieser Ausstellung werden zum ersten Mal Arbeiten vorgestellt, die den reifen Maler Servais zeigen, dessen Entwicklung überzeugt, der dem Höhepunkt zustrebt, dessen Oeuvre durch das In-Sich-Ruhen, durch seine Geschlossenheit überzeugt.

Verena Tafel
Berlin, im Juni 1987